erzählt von meinem Vater Harry Ehlers, geb. 1921 in Wesermünde:
Ich als kleiner Junge hingegen, musste oben in der Wohnung bleiben. Sofort holte ich mir einen Hocker, um das Geschehene vom Fenster aus zu beobachten. Was war das für ein Lärm und Geschrei dort unten! Die Leute liefen hin und her und irgendwie begriff ich, dass dort ein Unfall mit der Straßenbahn passiert sein musste. Es war wohl so, dass jemand von der Straßenbahn überfahren worden war, man aber nicht helfen konnte, weil niemand an den auf der anderen Straßenseite gegenüber dem Bekleidungsgeschäft liegenden Verletzten herankam. Der einzige, der sofort das Richtige tat war Herr von der Heide. Der rannte so schnell er konnte zur Unterweser-Werft, die ca. 600 m von der Kreuzung entfernt war, um dort Hilfe zu holen.
Und es kam Hilfe. Im Laufschritt kamen wohl ca. 50 Werftarbeiter zur Unfallstelle und hoben mit gemeinsamer Kraft den Straßenbahnwagon so hoch, dass man das Unfallopfer bergen konnte. Da erst konnte ich sehen, dass es sich um ein kleines Mädchen handelte, das überfahren worden war.
Meine Eltern, die zu der Zeit, die einzigen in der Umgebung waren, die ein Telefon besaßen, hatten sofort bei der Polizei angerufen (einen Notruf gab es damals wohl noch nicht) und den Unfall gemeldet. Nach kurzer Zeit kam dann auch ein von zwei Pferden gezogener Wagen, der als Krankenwagen diente. Dieser brachte das kleine Mädchen ins Krankenhaus. Wie es dann weiterging, ob das Mädchen wieder gesund wurde oder nicht, das habe ich nie erfahren. Aber ich musste oft in meinem Leben daran denken, was man schaffen kann, wenn alle zusammen mit anpacken und nur ein Ziel verfolgen. Hier hatten die Werftarbeiter wahrscheinlich gemeinsam ein Leben gerettet.
© Brigitte Ehlers 2010
Nun war ich schon einige Wochen im Taxigeschäft als sogenannte "Ratte" tätig. So nennt man die Aushilfsfahrer im Taxigewerbe und sie sind von den festangestellten Taxifahrern nicht immer gern gesehen. Aber das störte mich nicht, ich hatte meinen momentanen Traumjob! Ich konnte jeden Abend das Taxi abholen und soviel oder sowenig fahren wie ich wollte. Der Eigentümer freute sich, wenn überhaupt nachts gefahren wurde, denn sonst stand bei ihm der Wagen nachts in der Garage. Und ich hatte schnell rausbekommen, dass es wesentlich spannender war, nachts Taxi zu fahren als tagsüber. Tagsüber fuhr man hauptsächlich die Leute von einem Arzt zum anderen und auch sonst war die Kundschaft nicht aufregend.
Aber in der Nacht war alles viel aufregender. Es war auch noch nicht so gefährlich nachts zu fahren. Heute würde ich das nicht mehr machen. Es lag aber auch an der Unbekümmertheit meiner Jugend, dass ich keine Angst hatte und es als Abenteuer sah, nachts durch die Stadt zu fahren und Leute aus den verschiedensten Schichten kennenzulernen und zu beobachten. Und es war wirklich spannend! Was man da alles erleben konnte. Es war eine Schule des Lebens für mich. Wo konnte man sonst Menschen so hautnah erleben?
Am spannendsten war es immer, wenn Vollmond war. Das merkte man ganz schnell. Es war als spielten alle Leute verrückt. Die Fahrgäste waren nervös, aggressiv und nörgelten wegen jeder Kleinigkeit. Sofort wusste man, heute muss Vollmond sein und wenn man dann zum Himmel guckte bestätigte sich diese Annahme meistens auch sofort. So war es auch an diesem Tag als ich wieder meine Nachtschicht begann. Ich war guten Mutes und freute mich über die erste Tour, die nicht lange auf sich warten liess. Ich wurde zu einer Kneipe gerufen und ein junger Mann setzte sich zu mir in den Wagen. Er sah nicht unfreundlich aus, sagte aber weder Guten Abend noch Hallo, sondern nur: "Geradeaus". Ich wunderte mich, aber ich fuhr erst einmal los.
Ich war schon vorgewarnt worden von den Kollegen: Heute ist wieder Vollmond, da können wir wieder was erleben. Na ja und nun hatte ich so einen Kandidaten im Auto. Nach "Geradeaus" folgte: "Rechts rum" und danach wieder "Rechts" und dann noch einmal "Rechts". Ich hatte keine grosse Lust zum Diskutieren und so fuhr ich so, wie der Fahrgast es verlangte und auf einmal standen wir wieder vor der Kneipe, aus der er herausgekommen war. Der Fahrgast guckte mich freundlich an und sagte: "Und das war nur zur Probe". Er bezahlte, stieg aus und ging wieder in die gleiche Kneipe rein. Na ja, es war eben Vollmond und das war nur der Anfang.
Ein paar Touren später stieg ein Pärchen in den Wagen. Er setzte sich auf den Beifahrersitz, sie hinten auf den Rücksitz. Wir fuhren los und er schaute mich an und sagte immer wieder: "entzückend" und dann wieder "entzückend". Nach dem dritten "entzückend" drehte ich mich zu der Partnerin um und fragte: "Hat Ihr Mann das öfter? "Ja, ja sagte die Frau, bei Vollmond ist der immer so komisch, aber denken Sie sich nichts dabei, es gibt Schlimmeres". Na ja, wenn man es sich überlegte hatte die Frau recht. Er war nicht frech geworden und wenn einer "entzückend" zu einem sagt, kann man damit leben. Zumindest in einer Vollmondnacht.
Der Clou in dieser Nacht stand aber noch bevor. Ich hatte ziemlich viel zu tun und auf der Rückfahrt von Langen nach Lehe wurde ich wieder zu einer Kneipe gerufen. Der neue Fahrgast war eine Frau und die war ziemlich angetrunken. Das war für mich nichts Aussergewöhnliches, damit hatte man als Taxifahrerin besonders nachts des öfteren zu tun, aber die Frau war ziemlich elegant angezogen und ich war verwundert, dass sie so betrunken war.
Die arme Frau dachte ich. Die hat heute ihren Moralischen, betrinkt sich, gibt ihr ganzes Haushaltsgeld dabei aus und morgen kommt der grosse Katzenjammer. Irgendwie hatte ich Mitleid mit der Frau und redete auf sie ein, dass es doch besser wäre, nach Hause zu fahren und nicht in die nächste Kneipe. Davon war die Frau aber nicht zu überzeugen, sie wollte mir aber etwas Gutes tun, weil ich mir doch ihre ganzen Probleme angehört hatte und drückte mir so 500,- Mark in die Hand mit der Bemerkung: "Sie sind so nett, sie sollen sich auch einen schönen Tag machen und ich gebe das Geld sowieso nur in der nächsten Kneipe aus". Diese Gefahr sah ich allerdings auch, aber ich wollte das Geld nicht annehmen.
Doch die Frau bestand darauf und da ich mir ziemlich sicher war, dass das Geld sonst in der nächsten Kneipe blieb, steckte ich es erst einmal ein. Die Frau ging in die Kneipe und ich über-legte, was ich nun tun sollte. Dass ich das Geld nicht behalten würde, war mir ziemlich schnell klar, denn ich hatte immer noch das Gefühl, die Dame würde das Geld am nächsten Tag schmerzlich vermissen, denn eigentlich machte sie einen soliden Eindruck. Ich fuhr zur Taxi-Zentrale und gab das Geld dort ab. Ich erzählte von der Frau, hoffte, dass sie sich am nächsten Tag melden würde und fuhr weiter meine Nachtschicht.
Zwischendurch machte ich mit anderen Kollegen eine Kaffeepause und erzählte von dem Erlebnis mit den 500,- Mark. Die hielten mich alle für verrückt. Wie kann man so blöd sein und das Geld abgeben. Die hätte doch sonst auch alles versoffen. Aber ich hätte das nicht gekonnt. Ich sah in Gedanken immer die Frau am nächsten Tag mit ihrem Katzenjammer vor mir.
Die Nachtschicht ging weiter und auf einmal bekam ich einen Ruf von der Zentrale, ich möchte doch bitte dort vorbeikommen. Als ich eintraf, sass dort ein aufgebrachter Ehemann, dessen Frau behauptete, eine Taxifahrerin hätte ihr 500,- Merk gestohlen. Gott sei Dank hatte ich aber ja das Geld in der Zentrale abgegeben und so konnte die Behauptung schnell widerlegt werden.
Aber der Mann sagte auch, seine Frau sei schon lange eine Alkoholikerin, die immer wieder das ganze Geld vertrinken würde. So kann man sich täuschen, dachte ich noch und nachdem sich der Mann bedankt hatte, fuhr ich weiter in die Nacht hinaus und dachte: Was nun wohl noch kommt, ist ja Vollmond."
© Brigitte Ehlers 2010
Wenn ich heute an meine Kindheit zurück denke, dann denke ich, dass wir Butjer in Lehe damals das Paradies auf Erden zum Spielen hatten. Es war gleich nach dem Krieg und so gab es damals natürlich noch keine öffentlichen Spielplätze. Aber wir waren viele Kinder in unserem Viertel und wir hatten auch unsere Spielplätze. Diese waren sicher nicht so perfekt wie die heutigen, aber für uns waren sie abenteuerlich, wild und sicher auch manchmal gefährlich. Wir waren jung, unbändig und unsere Eltern hatten auch gar keine Zeit, sich dauernd darum zu kümmern wo wir waren. Die Mütter waren meistens damit beschäftigt, irgendwo etwas Essbares herzubekommen und die Männer mussten arbeiten. Also suchten wir uns unsere eigenen Spielplätze in der Umgebung.
Da war zuerst einmal der Saarpark. Im Saarpark floss die Aue, man konnte darin Stichlinge und sonstige kleine Wassertiere fangen, die dann ins mitgebrachte Marmeladenglas tun und schon hatte man ein Aquarium zuhause im Zimmer. Das ging zumindest solange gut, bis der Gestank des brackigen Aue-Wassers der Mutter zuviel wurde und man das Marmeladenglas entsorgen musste.
Oder wir bauten Höhlen im Saarpark. Dabei kam es natürlich immer auf die Zusammensetzung der Gruppe an, die dort spielte, aber da ich als Kind immer lieber mit den Jungen herumtollte, bauten wir natürlich Höhlen für Gangster und Piraten, während die braven Mädchen immer nur Haus und Familie spielen wollten und sich dafür eine Höhle bauten. Sei’s drum, jeder machte das nach seinem Gusto und alle waren glücklich und zufrieden. Es war schon toll so einen Park zum Spielen zu haben.
Das Dollste aber überhaupt war, wenn sich die Gruppen aus den verschiedenen Straßen zu einer „Straßenkloppe“ verabredeten und dann mit Ästen und Stöcken aus dem Saarpark aufeinander losgingen. Aber so gefährlich das heute klingen mag, viel ist bei diesen Straßenkloppen nie passiert. Wahrscheinlich war es nur ein leichtes Säbelrasseln, denn um uns gegenseitig richtig zu verhauen, fehlte uns wahrscheinlich dann doch der Mut, waren wir doch alle noch ziemlich jung und so richtig Krach hatten wir mit den anderen ja auch nicht. Ich kann mich jedenfalls an keine einzige Verletzung erinnern und ich denke auch, dass wir damals alle viel zuviel Schiss vor unseren Eltern hatten. Denn, wenn was bei diesen Straßenkloppen passiert wäre, hätte es zuhause wahrscheinlich noch viel mehr „Kloppe“ gegeben, oder man hätte Stubenarrest bekommen und das hätte richtig wehgetan. Also brüllte man nur aufeinander ein, schlug die Stöcke wild durch die Luft und dann vertrug man sich irgendwann auch wieder miteinander.
Genauso ein Abenteuerspielplatz war der Holzplatz von Kistner am Ende der Luisenstraße. Hier lagerten die großen Balken der Tischlerei Kistner und wir Kinder fanden es herrlich, dort zwischen den Balken herumzuklettern. Auch dort bauten wir Höhlen und Verstecke, schworen uns Blutsbrüderschaften (wobei ich als Mädchen natürlich immer nur ausnahmsweise geduldet wurde) und wir machten dort unsere Mutproben. Wer z.B. auf den höchsten Holzstapel klettern konnte oder sogar dort oben balancieren konnte, ja der war schon mutig und wurde bald Anführer unserer Gruppe. Mädchen kamen da natürlich nicht in Frage, aber ich war ja plietsch und konnte mich anderweitig profilieren.
Ich kannte nämlich einen Mann, der Biberratten züchtete und das war schon etwas ganz Außergewöhnliches.
Der Herr Hufnagel, so hieß der Mann, hatte eine Heißmangel auf dem Sülten und da meine Eltern dort öfter etwas mangeln ließen, musste ich manchmal dort hin und die Sachen wieder abholen. Und so lernte ich den netten Herrn Hufnagel näher kennen und der erzählte mir, dass er in seinem Garten an der Geeste Biberratten züchtete. Wenn ich Lust hätte, könnte ich mir die ruhig mal angucken. Alleine hatte ich vor diesen Viechern natürlich viel zu viel Angst, aber das war natürlich etwas, womit ich bei den Jungs punkten konnte. Biberratten hatten die nämlich auch noch nie gesehen, da war ich mir sicher.
Die Gärten an der Geeste kannten wir natürlich schon, stromerten wir dort doch auch immer mal entlang, klauten Äpfel am Wegesrand und schauten den Ruderern bei ihrem Training zu. Und so fragte ich dann Herrn Hufnagel, ob ich denn zu ihm auch mit meinen Freunden kommen könnte, um die Ratten anzuschauen. Natürlich sagte er und lud uns schon am nächsten Tag ein, ihn in seinem Garten zu besuchen.
Etwas mulmig war mir schon, hatte ich doch eine Riesenangst vor Ratten, denn ab und zu sah man ja schon mal eine über die Strasse laufen und ich stellte mir dann immer vor, dass sie mir über die Füße laufen könnte und das war weiß Gott keine schöne Vorstellung. Aber ich wollte ja mutig sein und vor meinen Freunden angeben, dass mich so eine Ratte ja nun gar nicht beeindrucken konnte. Also erwähnte ich so ganz nebenbei, dass ich jemanden kannte, der Biberratten züchtete und wir uns die ruhig mal aus der Nähe angucken und vielleicht sogar anfassen könnten. Die Neugier war groß und so zogen wir am anderen Tag zum Garten des Herrn Hufnagel, um uns die Ratten anzuschauen.
Wir staunten nicht schlecht als wir die riesigen Biberratten zum ersten Mal sahen. Sie sahen richtig gefährlich aus und vor allen Dingen hatten sie superlange orangefarbene Zähne. Diese machten uns dann doch ein bisschen Angst, so dass keiner auf die Idee kam, so ein Tier auch anfassen zu wollen. Wahrscheinlich hätte das Herr Hufnagel auch gar nicht zugelassen, aber das mussten die anderen ja nicht unbedingt wissen.
Ich weiß noch, dass Herr Hufnagel uns erklärte woher die Biberratten stammen und dass sie eine Größe von ca. 65 cm erreichen und zusätzlich noch einen Schwanz von 25-35 cm haben. Das ganze machte mir diese Viecher nicht gerade sympathischer. Gut, dass sie im Gehege waren, aber die Jungs waren vollauf begeistert und von da ab war ich ein vollwertiges Mitglied ihrer Gruppe. Ich weiß aber bis heute nicht, warum der Herr Hufnagel diese Biberraten gezüchtet hat. Im Nachhinein nehme ich an, dass er sie wegen ihres Felles gezüchtet hat, aber das hat er uns damals nicht verraten.
© Brigitte Ehlers 2010